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Als Lehrerin in Röhrmoos - Elisabeth Rathjens erzählt über den Krieg und das Kriegsende

Als ich 1941 nach Röhrmoos kam, war die Welt für mich noch einigermaßen in Ordnung. Wir hatten 1940 geheiratet, ich war aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden. Als angestellte Lehrerin erhielt ich die Vertretung in Röhrmoos. Röhrmoos war zwar ein Dorf, aber es lag im Einzugsbereich von München. Die Schulkinder waren in Herkunft und Anlage sehr verschieden, teilweise hochbegabt, teilweise durch Arbeit in der Landwirtschaft völlig überlastet. Die Bevölkerung setzte sich aus Bauern, Handwerkern und Arbeitern zusammen. Am ersten Schultag erklärten mir die Kinder, sie hätten so ein schönes Lied gelernt, ob sie mir es vorsingen dürften. Und sie sangen: "Von all unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut, als unser Sturmführer Wessel, ein lustiges Hakenkreuzblut!" Ich wusste nicht, sollte ich lachen oder weinen. Als in der Folgezeit die Züge immer unregelmäßiger verkehrten, mußte ich mir am Ort eine Bleibe suchen. Aber die meisten Räume waren schon belegt, zum größten Teil mit Geschäftsleuten aus München, die ihre Warenbestände in Sicherheit bringen wollten, nicht zum Schaden der Vermieter, auch nicht zum eigenen! Da verwandelte sich manche Uhr in Butter und manche Brosche in Fleisch aus einer Hausschlachtung. Was wollte ich da mit meinen knapp 300 Mark im Monat und mit meiner Lebensmittelkarte? Beim Bader Schuster war ich in einer mit Möbeln und Hausrat vollgestopften Kammer untergekommen, keine Heizung, kein Tisch, kein Stuhl, kein Platz, um meine Hefte zu korrigieren oder Notizen für die Vorbereitung des Unterrichts zu machen. Mein Vater war inzwischen nach Regensburg versetzt worden. Meine Mutter war bei einer entfernten Base in Vierkirchen untergekommen und verdiente sich mit Näharbeiten im wahrsten Sinne des Wortes ihr tägliches Brot. Nach einiger Zeit zog ich dann in eine kaum größere, aber gemütlichere Kammer beim Nefzger. Die Verhältnisse wurden immer bedrohlicher. Oft war schon am Morgen Fliegeralarm und ich litt Todesängste, wenn ich meine braven Schulkinder auf dem Weg von Schönbrunn oder Kleininzemoos auf der offenen Landstraße wusste. Wiederholt drängten wir uns in die enge Lößhöhle unter dem Pfarrgarten. Wie Silbervögel zogen die tödlichen Maschinen am tiefblauen Himmel im Norden dahin, schaurig schön! Unvergesslich wird mir der 28. April 1945 bleiben. Am späten Nachmittag tobte ein Frühlingsgewitter mit Regenschauern und Schneesturm. Ich stand am Fenster meines Zimmerchens. Die ersten Soldaten waren auf dem Rückzug vor den Amerikanern. Seit Tagen hörte man schon das ferne Brummen der amerikanischen Panzer von der Autobahn her. Plötzlich brauste ein Motorrad in Nefzgers Hof. Das Unglaubliche war geschehen, der Rückzug hatte meinen Mann durch Röhrmoos geführt. Er blieb über Nacht, aber mein Bitten und Drängen konnten ihn nicht dazu bewegen, seine Uniform auszuziehen und in Röhrmoos unterzutauchen. Er wollte bei seinen Leuten bleiben, solange er für sie verantwortlich war. Ich begleitete ihn und seinen Burschen, den Motorradfahrer (ein polnisch sprechender Oberschlesier) bis Schönbrunn. An der Ecke verabschiedeten wir uns und ich sah ihn Richtung Ziegelberg entschwinden. Noch ein paar Wagen, einige fußkranke Landser, unentschlossene Nachzügler und dann Stille, die wehtat. Ich war in eine andere Welt versetzt worden mit einem Schritt, eine unüberbrückbare Kluft trennte uns. Auf meinem Rückmarsch ins Dorf kamen mir die ersten Ami entgegen, am Straßenrand saß Kaugummi kauend ein schwarzer Soldat, unberührt und teilnahmslos. Die folgenden Tage waren wohl die bittersten meines Lebens. Im allgemeinen Durcheinander war an einen geordneten Schulbetrieb nicht zu denken, aber die Tatenlosigkeit machte alles noch schlimmer. Endlich, am 7. Mai, kam Rosa, die polnische Magd bei Nefzger, angerannt: "Frau, Frau, Mann ist da, Mann ist da!" Ich konnte es nicht glauben, bis er vor mir stand: zerlumpt, verschmutzt und unrasiert. Sein treuer Bursche und der Kriegsgerichtsrat seiner Einheit waren bei ihm. Und das war seine Geschichte: In der Nähe von Dietramszell war der Rückzug zum Stillstand gekommen. Ein fürchterliches Ende voraussehend, stellte er allen, die es wollten, Entlassungspapiere aus. Als Geograph mit dem bayerischen Oberland bestens vertraut, hatte er sich angeboten, seine Leute vorbei an versprengten SS-Einheiten, die jeden flüchtenden Landser aufhängten, hinter die amerikanische Front zu führen. Entlassene KZ-Häftlinge machten ihrem angestauten Hass Luft. Da war der polnische Begleiter sehr hilfreich. Über München, dank Cousine Trudi, glückte es ihm, über Dachau Röhrmoos zu erreichen. Seit einigen Tagen fiel uns rege Betriebsamkeit auf der Straße auf. Menschen mit Rucksäcken, Handwagen und Karrten, dazwischen Bauernfuhrwerke. Wir wollten wissen, was los war und schlossen uns der Prozession in Richtung Bahnhof an. Unser Verdacht bestätigte sich, die Lagerhäuser und Schuppen wurden geplündert. Schon kamen die ersten "Beutemacher" mit Kisten, Kasten und Säcken zurück. Auf der Straße lagen verstreut und vom Winde verweht beschriebene Blätter, Akten und Dokumente, in den Schmutz getreten, zerrissen, zerfetzt. Fragmente einer wissenschaftlichen Arbeit waren zu erkennen, dazwischen Rechnungen, Weizenkörner und Marmeladenfässer. Angeekelt und die Disziplinlosigkeit und Habgier der Menschen beklagend, kehrten wir in unser Stübchen zurück. Dann war da noch der Zweifel an der Anerkennung des Entlassungsscheines. Man hörte da und dort Gerüchte von Schwierigkeiten. So entschloss sich mein Mann, mit meinem alten Fahrrad zum nächsten Kriegsgefangenenlager zu fahren. Bei Schönbrunn platzte der erste Reifen, den er bald geflickt hatte. Aber schon am Ziegelberg platzte der zweite. Carl nahm dies als einen Wink des Himmels, kehrte um und blieb in Röhrmoos. Eines Tages bot mir Frau Gräßmann zwei Zimmer der Lehrerwohnung an. Wir waren sehr dankbar, konnten wir doch jetzt die letzten Reste unserer Habe, Bücherschrank, Klavier und Matratzen herbeiholen. Und wir hatten endlich unsere erste Wohnung, sogar mit Badbenützung. Auch in der Schule kehrte langsam wieder Ordnung ein. Außer mir amtierte ein Flüchtlingslehrer aus Schlesien. Eines Tages stieß noch eine "umgeschulte" Lehrkraft dazu. Und dann kam die Entnazifizierung. Wir marschierten, als wir aufgerufen waren, zur Bahnhofswirtschaft. Im kahlen Saal saß an einem Schreibtisch ein gutaussehender Herr mittleren Alters. Ich war als erste dran, das Fragespiel begann: "Sie sind Lehrerin in Röhrmoos?" "Ja." "Waren Sie bei der Partie?" "Nein." "Sonstige Mitgliedschaft?" "Beim BDM." "Pikiert: "So, also." "Als junge Schulamtsanwärterin ..." "Und in Röhrmoos?" "Nicht aktiv." "Sie sind verheiratet?" "Ja." "Da sind Sie bei der NS-Frauenschaft?" "Nein!" "Wo ist Ihr Mann?" "Der steht vor der Türe." "Soll reinkommen." Er kritzelte seinen Namen auf ein Formular, ich war entlassen. Im Hinausgehen hörte ich noch, wie er meinen Mann mit den Worten: "So, Sie sind der Mann von dieser Frau!" empfing. Die weitere Befragung meines Mannes spielte sich folgendermaßen ab: "Beruf?" "Noch keinen, 1936 promoviert." "Waren Sie beim Militär? Ihr Dienstgrad?" "Major der Reserve." Der Mann war wie vom Donner gerührt. "Entlassungsschein?" Mein Mann zeigte ihm seine Papiere: "Danke Herr Major! Sie können gehen." Unterschrift. Auch dieser Druck war von uns gewichen. Die Dienststellenangst saß noch zu tief. Als ich einige Tage später mit dem Fahrrad nach Vierkirchen fuhr, standen am Straßenrand wunderschöne Pilze. Ich wollte sie pflücken, aber plötzlich mußte ich mich übergeben. Als dann meine Mutter die dampfende Nudelsuppe auf den Tisch brachte, hatte ich wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Vorsichtig fragte meine Mutter: "Kriegst Du vielleicht ein Baby?" Natürlich, ich war schwanger. Wir waren überglücklich. Bis Weihnachten machte ich noch meinen Schuldienst in Röhrmoos, dann zogen wir nach Neuaubing. Mit einem Ochsenkarren transportierte der hilfsbereite Nefzger unsere Habseligkeiten. Neben ihm auf dem Bock sitzend nahm ich Abschied von Röhrmoos. Nachtrag: Am 30. März 1947 wurde am Tage der Habilitation ihres Vaters unsere Tochter Brigitte geboren. Am 21. August 1950 folgte unser Sohn Peter.
Thema: Zeitzeugeninterviews
Autor: Elisabeth Rathjens
Quelle: Elisabeth Rathjens
Ort: Gemeinde Röhrmoos